Eine wundervolle Geschichte zu diesem Thema
Ariane blieb kurz stehen, bevor sie das Wartezimmer betrat. Es war immer so mit neuen, ungewohnten Situationen. Doch jetzt hatte sie sich schon registrieren lassen, hatte den Termin vor zwei Wochen erhalten und wollte ihn auch nicht verfallen lassen. Es war ja eh nur eine lästige Routine-Kontrolle, das ging auch einmal bei einem ihr fremden Arzt. Sie atmete kurz durch, klopfte, öffnete die Tür und trat ein.
So gross und so voll hatte sie sich den Wartebereich nicht vorgestellt, obwohl sie wusste, dass Patienten aus dem ganzen Gebäude hier aufeinander trafen. Sie hatte es eher auf ökonomische Zwänge der einzelnen Praxen geschoben, dass sie sich auf ein Wartezimmer geeinigt hatten, und diese Praxis hatte den „Schwarzen Peter“ erwischt. Doch dies war nicht eine lieblos freigelassene Abstellkammer mit sterilem Inventar. Eher eine kleine Halle, aufgeteilt in Nischen und durch Blumenkübel abgegrenzte Ecken mit einer heimeligen Atmosphäre, wie bei einem guten Restaurant.
An der hinteren Wand sah sie ihr Ziel. Unter einem hölzernen Schild mit der Aufschrift: „Lesebereich – bitte Ruhe!“ befand sich eine einladende, terracottafarbene Couch, mit Kissen in warmen Erdtönen bestückt. Ein warnender Gedanke durchstreifte sie, als sie diese Sitzgelegenheit mit den Plastikstühlen bei ihrem eigenen Arzt verglich. Wie wollen sie das nur sauber halten? Schliesslich sind hier Keime von kranken Menschen!
Mit einer Kopfbewegung versuchte sie, den Einwurf abzuschütteln. Nicht ihr Problem! In Vitrinenschränken aus dunklem Holz erkannte sie dicke Bildbände und andere als Praxiseigentum gekennzeichnete Bücher. Auf der anderen Seite befand sich ein offenes Regal mit der Aufschrift „Eins raus, eins rein“, die Ariane schon von anderen Büchertauschstellen kannte. Sie hatte sich sowieso nicht auf abgelaufene Zeitschriften über Adel und andere Prominente gefreut, sondern selbst vorgesorgt. Leicht tippte sie an das Taschenbuch in ihrer Jacke, deren spannender Schluss auf sie wartete. Der Morgen war gerettet! Sie setzte sich in Bewegung.
Zu ihrer Linken standen zwei mächtige Kunstledersofas und passende Sessel zwischen Palmen und Feigenbäumchen. Zwei Männer waren dort in einem angeregten Gespräch. Medizinische Ausdrücke fielen: „Herzkatheter“, „Stent“, Bypass“. Ariane schmunzelte, sie kannte derlei Dialoge aus anderen Wartezimmern. Es war wie das Klischee von Klassentreffen, wenn sich ehemalige Mitschüler damit beeindrucken wollten, wie weit sie es im Leben gebracht hatten und wie erfolgreich sie geworden waren. „Mein Haus, mein Auto, mein Rennpferd“, nur mit Diagnosen und Eingriffen.
Und als wenn sie die fotografischen Beweise vor sich aufreihen wollten, legten die beiden Männer Karten ab auf
den niedrigen Beistelltisch. Ariane stoppte neugierig, sah genauer hin. Tatsächlich, ein Kartenspiel.
„Offene Herzoperation“, trumpfte jetzt einer der beiden auf, „der Stich geht an mich.“ Beide lachten.
Auf der anderen Seite sassen zwei ältere Paare um einen Esstisch herum. Sie griffen gut gelaunt zu den Obststücken, die in einer grossen Schale angeordnet waren. Eine der Frauen steckte eine Handvoll Münzen in das Keramikschwein daneben, verabschiedete sich, ohne aufgerufen worden zu sein: „So, ich muss los. Wir sehen uns morgen wieder. Und vergesst nicht, dass ihr für das Spazieren gehen eingetragen seid.“
Verwirrt blieb Ariane stehen, während sich eine andere Frau zu dem Grüppchen setzte. Neben ihr erschien eine
ältere Dame mit einem Logo des Gesundheitszentrums am Blusenkragen.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Ähm ...“ Ariane kämpfte mit den Worten. „Dieses Zimmer ist ... ungewöhnlich“, versuchte sie eine neutrale Formulierung.
„Ungewöhnlich, genau!“, stimmte ihr die Dame zu, und ihre Augen blitzten begeistert. „Wir wollten mal etwas Neues ausprobieren.“
„Kommen hier auch andere Leute hin, ich meine, die keine Patienten sind?“
„Ja, das ist so eine Art Treffpunkt.“ Sie nickte wie zur Bestätigung ihrer Worte. „Wissen Sie, Studien haben den Zusammenhang von Einsamkeit und Krankheit aufgezeigt. Die Kosten für das
Gesundheitswesen steigen immer mehr, gleichzeitig ist für manche Menschen das Sitzen im Wartezimmer die einzige Möglichkeit der Begegnung mit anderen.“ Sie suchte die passende Formulierung. „In
diesem Modellprojekt versuchen wir, den Menschen das zu geben, was sie zur Gesunderhaltung benötigen, ohne dass sie den Arzt konsultieren müssen.“
„Und der macht mit? Der verliert doch Patiententermine!“ Ariane staunte.
„Die Ärzte in diesem Zentrum waren so ausgelastet, dass sie ihre Sprechstunden verlängern mussten und währenddessen noch nicht einmal zu einem Toilettenbesuch kamen.“ Sie pfiff ein wenig beim
Ausatmen. „Jetzt sehen sie nur noch Patienten, die wirklich ärztliches Know How benötigen.“
Bevor Ariane noch mehr fragen konnte, wurde ihr Name aufgerufen.
„Das ging schnell!“, sagte sie noch und lächelte die Dame an. „Viel Erfolg weiterhin!“
Das Buch schwang ungelesen in ihrer Jackentasche.
Autorin: Elisha Benedikt